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Catrin Bolt - Lauftext

Die Novemberpogrome von 1938 gelten als bezeichnendes Ereignis, da erstmals von offizieller Seite Gewalt gegenüber Jüdinnen und Juden angeordnet war und Teile des Staatsapparats sowie der Bevölkerung in massiven Übergriffen auf offener Straße gegen jüdische Mitbürger*innen vorgingen. In Graz wurde nicht nur die Synagoge in Brand gesteckt; wie viele andere Jüdinnen und Juden holte man auch den damaligen Oberrabbiner David Herzog nachts aus seiner Wohnung, misshandelte ihn auf offener Straße und bedrohte ihn wiederholt mit dem Tode.

Als Künstlerin, die in unterschiedlichsten Medien arbeitet, wählte Catrin Bolt in ihrem Vorschlag für ein zeitgenössisches Mahnmal das Medium Schrift. Der Bericht von David Herzog wird von ihr entlang jener Strecke, die er zu Fuß durch die Stadt getrieben wurde – ausgehend von seinem damaligen Wohnort in der Radetzkystraße 8 bis zum Griesplatz – als Lauftext auf den Gehsteigen aufgetragen.

Der Stadtraum als zentraler Bereich des öffentlichen Lebens, der besonders auch zu jener Zeit als Ort der Machtbehauptung und Exklusion genutzt wurde, wird zum Erzähler seiner eigenen Vergangenheit. Schrift dient nicht nur als Zeichen der Bewusstwerdung und Reflexion, der Geschichtsschreibung und Kommunikation, sondern wird im Lauftext auch zu einer Skulptur.

Dieses Mahnmal ist kein symbolisches oder repräsentatives Denkmal, das in Vertretung für die Bevölkerung Leid darstellt und mahnt, es fordert die Betrachter*innen und bindet sie aktiv in den Gedenkprozess ein. Über den subjektiven Bericht kann die damalige Situation nachempfunden werden, und man wird nicht nur theoretisch, transformativ informiert, sondern kann real den Weg verfolgen, Sequenzen empfinden, wird unmittelbar und doch subtil berührt. Anhand eines Einzelschicksals wird hier die grauenvolle Dimension menschenverachtenden Massenwahns erkenn- und fühlbar.

Die Arbeit funktioniert nicht nur im klassischen Sinne eines Denkmales, das auf die Vergangenheit verweist und für die Zukunft warnt, sondern spricht sowohl über ihre Ausführung als auch über den Textinhalt allgemein Verwendung und Missbrauch des öffentlichen Raumes zu machtpolitischen Aspekten an. Denn tatsächlich steht immer wieder zur Diskussion, wie der öffentliche Raum begriffen und definiert wird, von wem er besetzt oder eingenommen werden kann, wer nur am Rande Platz hat und wer im Zentrum steht. Klar ist, dass er nicht Wohnzimmer, also persönlicher Privatbereich ist, aus dem man Unerwünschtes einfach aussperren kann. Heute stellt sich zunehmend die Frage, wie weit er, als grundsätzlich allen zugänglicher und zur Verfügung stehender Bereich, von ökonomischen Interessen dominiert und geprägt wird. Kunst ist weder mit kommerzieller Werbung vergleichbar, noch dient sie der Behübschung unserer Umgebung. Sie spielt in unserem Leben und vor allem im öffentlichen Raum eine besondere Rolle, da sie wesentlich zum Demokratieverständnis und zur Selbstreflexion innerhalb einer Gesellschaft beiträgt.

Am 10. November präsentieren wir in Kooperation mit der Jüdischen Gemeinde Graz das neu instand gesetzte Mahnmal. Die Broschüre mit dem ungekürzten Bericht David Herzogs, Abbildungen sowie weiterführenden Texten von Heimo Halbrainer, Gerald Lamprecht und Cornelia Offergeld wird an der Hauswand Radetzkystraße 8, in Kulturinstutionen und im Tabakfachgeschäft Nussbaumer am Griesplatz zur freien Entnahme aufliegen.

Text von Elisabeth Fiedler
Termine
1. November 2021, 16:00 - 24:00 Uhr
2. - 30. November 2021, Ganztägig
1. - 31. Dezember 2021, Ganztägig
1. - 31. Jänner 2022, Ganztägig
1. - 28. Februar 2022, Ganztägig
1. - 31. März 2022, Ganztägig
Weitere Informationen
Wo: Radetzkystraße 8 über den Grieskai, der Rosenkranzgasse, Kleegasse und Brückenkopfgasse bis zum Griesplatz
Veranstaltungsort/Treffpunkt